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Russlands Invasion der Ukraine: Eine Anfechtung des liberalen Skripts? - № 16: Argumente und/oder Emotionen – Zum Beitrag von Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung

von Thomas Risse

"Wie können wir der Ukraine helfen, nicht zu verlieren, ohne eine unkontrollierbare Eskalation zu riskieren?" Die Frage, inwiefern Deutschland und die Europäische Union die Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression unterstützen soll, wird intensiv diskutiert. Thomas Risse bezieht sich auf den Artikel „Krieg und Empörung“ des Philosophen Jürgen Habermas und kritisiert das Ausspielen von rationaler Argumentation und Emotionalität, die es nicht getrennt voneinander geben könne. Die Habermassche Position stelle das Risiko eines Atomkrieges in den Vordergrund, während die Gefährdung der liberalen internationalen Ordnung das eigentliche Risiko sei, so Risse.

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Image Credit: Jilbert Ebrahimi on Unsplash

Einer zunehmend polarisierten Debatte in der deutschen Öffentlichkeit, in der sich beide Seiten wechselseitig als „Kriegstreiber“ bzw. „Appeasement-Befürworter“ beschimpfen, täte eine vermittelnde Position gut, die die Argumente sachlich gegenüberstellt und abwägt. Leider trägt der Beitrag von Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 29. April 2022 wenig zur Versachlichung bei. Zunächst bedient er sich der rhetorischen Figur, die eigene Position als nüchtern-rational und die des Gegenübers als emotional und aufgeregt darzustellen. Habermas zufolge treten in der Debatte „die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung“ auf, personifiziert durch den Bundeskanzler. Demgegenüber stehe die „zur Ikone gewordene Außenministerin, die unmittelbar nach Kriegsbeginn mit glaubwürdigen Gesten und einer bekenntnishaften Rhetorik der Erschütterung einen authentischen Ausdruck verliehen“ und darüber hinaus der „spontanen Identifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben“ habe. Interessant sind die Gender-Stereotypen in dieser Gegenüberstellung (die emotionale, authentische Frau und der rational argumentierende Mann).

In seinem Beitrag in der SZ problematisiert Habermas die Kehrtwende ehemaliger Pazifist*innen, die nun mit moralischer Empörung forderten, dass die Bundesregierung immer mehr „schwere“ Waffen an die Ukraine liefern solle, und dabei die Gefahr einer Eskalation in den Atomkrieg aus den Augen verlören. Hier wird also den Befürworter*innen der Position, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken, Emotionalität vorgeworfen wird (sie überschlügen sich geradezu in Realismus, wie es an anderer Stelle heißt), wohingegen die Angst vor dem Atomkrieg als rationales Argument gilt.

Interessanterweise war das in den 1980er Jahren genau umkehrt: In der damaligen Nachrüstungsdebatte wurde der jetzt von Habermas vertretenen Position eine „irrationale Angst“ vor dem Atomkrieg vorgeworfen, wohingegen die damaligen Aufrüstungsbefürworter*innen sich als die rational Argumentierenden gerierten. Der historische Vergleich zeigt, dass trotz ähnlicher Sachlage die Bewertung der Argumente anders ausfällt – indem rationale Argumentation gegen Emotionalität ausgespielt wird. Als ob es so etwas wie eine emotionslose Argumentation gebe: Gerade wenn wir uns ernsthaft auseinandersetzen, sind wir immer auch mit den Gefühlen dabei. Das scheint übrigens auch Habermas so zu sehen, wenn er an anderer Stelle schreibt: „ohne moralische Gefühle keine moralischen Urteile“. Mir ist jedenfalls unerfindlich, wie man über Krieg in Europa – wie über fast alle wichtigen Themen – emotionslos sprechen kann. Das tut ja auch Habermas nicht, wenn er die Gefahr eines dritten Weltkrieges beschwört. Und erst nicht der ach so kühl argumentierende Bundeskanzler, wenn er seine Kritiker als „Jungs und Mädels“ bezeichnet – immerhin seine eigene Außenministerin sowie drei Vorsitzende von Bundestagsausschüssen – und das einige Tage, bevor die Bundesregierung verkündete, jetzt auch Gepard-Panzer an die Ukraine liefern zu wollen.

Dabei sind wir uns doch hoffentlich einig, dass die Ukraine den Krieg gegen die russische Aggression nicht verlieren dürfe (so auch Habermas im letzten Satz seines Textes). Denn darum geht der Streit: Wie können wir der Ukraine helfen, nicht zu verlieren, ohne eine unkontrollierbare Eskalation zu riskieren? Dabei gehört es zu einer ernsthaften Debatte, sich zuzugestehen, dass die NATO – und damit auch die Bundesrepublik – de facto längst Kriegspartei sind (wenn auch nicht im völkerrechtlichen Sinne), weil sie die Ukraine militärisch mit Waffen, Ausbildung und geheimdienstlichen Informationen unterstützen. Im Übrigen geht es um weit mehr als um Putins Krieg gegen die Ukraine, nämlich die Zukunft der liberalen internationalen Ordnung. Wie kann verhindert werden, dass sich das Recht des Stärkeren gegen die Stärke des Rechts durchsetzt? Es ist schon merkwürdig, dass Habermas, dessen gesamte Philosophie um die Frage kreist, wie man dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ zum Durchbruch verhelfen kann, dem Thema der internationalen Rechtsordnung als der institutionellen Voraussetzung für eine internationale Diskursgemeinschaft keine Zeile widmet.

Es wäre in der Debatte schon viel geholfen, wenn sich die Kontrahent*innen eingestehen würden, dass es um unterschiedliche Risikoabwägungen und dann am Ende auch um verschiedene politisch-normative Schlussfolgerungen geht. Die Habermassche Position stellt das Risiko eines Atomkrieges in den Vordergrund. Deshalb müsse man am Ende des Tages mit Putin verhandeln. Dagegen möchte ich argumentieren, dass es nur möglich ist, mit einem Staatschef diplomatische Lösungen zu verhandeln, wenn man sich darauf verlassen kann, dass Zusagen auch eingehalten werden. Hier hat Putin wieder und wieder gezeigt, dass mit ihm und der russischen Regierung getroffene Vereinbarungen das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben wurden.

Wie ist demgegenüber das Risiko einer nuklearen Eskalation einzuschätzen? Aus meiner Sicht ist es vergleichsweise gering. Das nukleare Abschreckungssystem ist nach wie vor intakt: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Bei Putin handelt es sich zwar um einen autokratischen Diktator, der jedweden Widerspruch unterdrückt (was möglicherweise zu der grotesken Fehleinschätzung geführt hat, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine schnell gewinnen könne). Aber er hat sich bisher nicht wie ein irrationaler Selbstmörder verhalten. Seine Atomkriegsrhetorik gehört zum russischen Propaganda-Arsenal. Die Mobilisierung von Ängsten vor einem dritten Weltkrieg soll offenbar bewirken, dass die öffentliche Zustimmung im Westen für die militärische Unterstützung der Ukraine abnimmt. Hinzu kommt, dass beide Seiten bisher peinlich darauf bedacht sind, eine unkontrollierbare Eskalation zu vermeiden und den Krieg auf die Ukraine zu begrenzen.

Dagegen halte ich das Risiko für größer, dass die liberale internationale Ordnung verfällt, wenn Angriffskriege wie diejenigen Putins gegen die Ukraine hingenommen werden [1]. Die Verletzung elementarer Grundnormen der internationalen Ordnung selbst ist schlimm genug. Sie aber hinzunehmen erscheint mir in der normativen Abwägung das weitaus größere Übel. Doch genau das geschieht mit dem Verweis auf das Eskalationsrisiko und dem Hinweis darauf, dass Russland Atommacht sei. Insofern darf die Ukraine in der Tat nicht verlieren – womit ich mit Habermas wieder übereinstimme.


[1] Siehe dazu auch https://www.zeit.de/2022/19/waffenlieferung-ukraine-offener-brief-olaf-scholz


Dieser Blog-Eintrag wurde zuletzt am 04. Mai 2022, 17:09 Uhr MEZ bearbeitet.

Prof. Dr. Thomas Risse ist Direktor des Berlin Center of International Research and Graduate Training (BIRT) und Seniorprofessor am Exzellenzcluster SCRIPTS.